Chorea Huntington

auch: Huntington-Krankheit, Morbus Huntington, Chorea major

Ätiologie

Statt der bisherigen Bezeichnung Chorea Huntington wird der umfassendere Begriff Huntington-Krankheit (M. Huntington) verwendet. Auf dem kurzen Arm von Chromosom 4 (IT 15) wurde bei M. Huntington eine Vermehrung der Trinucleotidsequenz Cytosin-Adenin-Guanin (CAG repeats) über 40 (normal 11-34) gefunden; die Funktion des kodierten Proteins (Huntington) ist noch nicht geklärt.

Klinik

Die autosomal-dominant vererbte neurodegenerative Erkrankung manifestiert sich klinisch durch die Trias choreatische Bewegungsstörung, psychiatrische Symptomatik (organische Wesensveränderung, Depression, Suizidalität) und Demenz. Hauptmanifestationsalter um das 35 LJ, einem Alter, in dem das Gen meist schon weitervererbt wurde. Es kommen aber auch Frühmanifestationen bereits vor dem 20 LJ, in der Regel mit hypokinetisch-rigider Symptomatik, Spastik, Pyramidenbahnzeichen und Anfällen, rasch progredienter Demenz (Westphal-Variante) und ungünstigem Verlauf sowie Spätmanifestationen mit meist milderem und protrahierterem Verlauf vor.

Stammt das Gen vom Vater, manifestiert sich die Krankheit im Durchschnitt früher und intensiver als bei mütterlicher Vererbung. Die durchschnittliche Lebenserwartung nach Erstmanifestation beträgt 15-20 Jahr, doch sind auch 30-40 jährige Verlaufe bekannt.

Diagnostik

Klinisches Bild mit meist langsamen Beginn, psychiatrischen Auffälligkeiten (Rückzugstendenzen, depressive Verstimmung, Suizidalität), Bewegungsstörungen (meist distal betonte Chorea), dementiellem Prozess und progressivem Verlauf

  • Familienanamnese
  • CCT, MR: Nachweis einer ausgeprägten Caudatum-Atrophie; im Frühstadium evtl. erniedrigter FH/CC (Frontalhorn/Caput nuclei caudati-)-Index (<1,8) sowie einer kortikalen Atrophie mit parieto-okzipitotemporalen Betonung. MR zusätzlich hypertensives Signal im Putamen.
  • PET: Glukosehypometabolismus in Striatum und Cortex
  • Elepktrophysiologie:
    • Amplitudenreduktion bei SEP und VEP
    • Latenzverzögerung bei akustisch ausgelösten P300
    • Willkürsakkaden im ENG verlangsamt
    • long latency-Reflexe: Komponente M2 vermindert
  • MEP: Latenz- und Amplitudenänderung
  • Psychometrische Tests: Leistungsdefizite hinsichtlich Konzentration, Gedächtnis und visuell-motorischer Koordination
  • Gentest: Mittlere Polymerasekettenreaktion ist eine direkte molekulargenetische Diagnostik bei Erkrankten und eine prädiktive DNS-Diagnostik bei Risikopersonen, eine pränatale Diagnostik sowie eine differentialdiagnostische Abklärung in Einzelfällen möglich. Bis zur Klärung, ob die bisher beschriebene Mutation auf Chromosom 4p in allen Huntington Familien die Erkrankung verursacht, sollte EDTA Blut (2x10ml) von einer erkrankten Person innerhalb der Familie mit untersucht werden. Bei einem CAG-Repeat > 40 liegt die Anlage für M. Huntington vor. Nach den bestehenden Richtlinien kann die Untersuchung nur bei Volljährigen auf freiwilliger Basis und ausführlicher Beratung durch eine Humangenetische Beratungsstelle erfolgen und nur, wenn eine psychotherapeutische Betreuung während und nach der Diagnosephase zur Verfügung steht. Dieser Test wird z.B. am Humangenetischen Institut, Universität Göttingen, durchgeführt.

DD

  • nach Krankheitsbildern
  • früh: Stoffwechsel-, Speicherkrankheiten
    • M. Wilson
    • M. Hallervorden-Spatz
    • Lesch-Nyhan-Syndrom
    • Tourette-Syndrom
  • spät
    • benigne hereditäre Chorea
    • familiäre Choreoathetose
    • Choreoakanthozytose
    • senile Chorea
    • olivopontozerebelläre Atrophie
    • dentato-rubro-Palido-luysische Atrophie
    • M. Creutzfeld-Jakob
  • Sydenham-Chorea
  • Chorea bei Lupus Erythematodes
  • senile Chorea
  • me$ikamentös-toxisch induzierte
    • Parkinson-Medikamente
    • Antikonvulsiva
    • Steroide
    • Opiate
    • Antihistaminika
    • Cimetidin
    • Diazoxid
    • Digoxin
    • Flunarizin
    • INH
    • Lithium
    • Methyldopa
    • Metoclopramid
    • Reserpin
    • Triazolam
    • Trizyklika
    • Alkoholintoxikation, -entzug
    • CO
    • Mn, Hg, Th, Toluol …

Therapie der Chorea major

Medikamentöse Therapie

Vor einer medikamentösen Behandlung sollte der Arzt prüfen, ob überhaupt eine Pharmakotherapie erforderlich ist. Viele Chorea-Patienten können relativ lange ohne Medikamente ihren Alltagsverpflichtungen nachkommen, ohne wesentlich durch Bewegungsunruhe beeinträchtigt zu sein.

  • Tiaprid
    • Wenn aufgrund der individuellen Situation eine frühzeitige Pharmakotherapie gewünscht wird, kann Tiaprid ( ein Benzamin-Derivat) eingesetzt werden.
    • Dosierung: 3 x 100mg/d, gelegentlich bis zu 3 x 200-400mg/d erforderlich
    • NW: Müdigkeit, verstärkter Antriebsmangel
  • Tetrabenazin (Tedmodis®)
    • bei Unverträglichkeit von Tiaprid sollte Tetrabenazin versucht werden
    • Dosierung: 3 x 25-75mg/d
    • NW: Depression, insbesondere bei Neigung zu depressiver Verstimmung
  • Bei deutlichen Hinweisen auf Depression wird eine antidepressive Therapie empfohlen. Wegen anticholinerger und catecholaminerger Effekte sollten tri- und tetrazyklische Antidepressiva nicht eingesetzt werden (Acetylcholindefizit, Dopaminüberschuß im Striatum). Dadurch könnten die Chorea verstärkt und Wahnvorstellungen sowie Halluzinationen ausgelöst werden. Hier haben sich Sulpirid  400-600mg/d und Alprazolam 3 x 0,5-1mg/d, bewährt, insbesondere bei Angst und innerer Unruhe, auch bei Depressionen mit Suizidalität.
  • Falls sich die Depression unter Sulpirid (Dogmatil®) nicht innerhalb von 4 Wochen bessert, ist evtl. die Gabe eines bewähreten Antidepressivums mit gleichzeitiger Gabe eines Neuroleptikums, z.B. Thioridazin (Melleril®) 3 x 25mg/d – evtl auch in höherer Dosis – zu erwägen.
  • Bei tremorartigen Hyperkinesien, die oft bei intendierten Bewegungen verstärkt auftreten können, hat sich Clonazepam (RivotrilŽ) 1-6mg/d als hilfreich erwiesen
  • Bei erheblichen Stimmungsschwankungen mit Neigung zu aggressiven Ausbrüchen oder Wahnvorstellungen und –wahrnehmungen Behandlung mit Neuroleptika in ausreichender Dosierung und Dauer. Clozapin (Leponex® 50-100mg/d) hat sich, unter Einhaltung der vorgeschriebenen Blutkontrollen, bei Patienten mit psychopathologischen Symptomen (wahnhafte Vorstellungen) bewährt.
  • Aufgrund des mittels PET nachweisbaren verminderten Glukosemetabolismus und der vermehrten Lactataufnahme empfiehlt sich ein Therapieversuch mit Piracetam 3 x 1,6g/d. Da Antriebssteigerung, Erregungszustände und Schlafstörungen ausgelöst werden können, sollte die letzte Dosis nicht nach 16 Uhr eingenommen werden.
  • Schlafstörungen treten bei der Huntington-Krankheit häufig auf; es haben sich Chloralhydrat,  Nitrazepam (Mogadon®) oder Flunitrazepam (Rohypnol®) bewährt.
  • GABAerge Substanzen wie Valproinat haben sich nur bei initial choreatischen Bewegungsstörungen über längstens 1 Jahr erfolgreich gezeigt. Die Verträglichkeit ist geringer als bei Diaprid. Isoniacid, ein unspezifischer GABA-Transaminase-Hemmer, zeigte bei einigen Patienten Besserung, oft stellte sich de Effekt erst nach ca. 6 Monaten Behandlungsdauer ein. Gleichzeitig ist ein Vitamin-B6-Präparat zu geben, um z.B. Polyneuropathie zu verhindern. Es empfiehlt sich die Kombination von 3 x 0,2g INH und 1 x 0,3g Vit B6. Baclofen (Lioresal®) hat sich unter kontrollierten Bedingungen bewährt.
  • Bei der Westphal-Variante ist zur Minderung der Parkinson-artigen Symptomatik der vorsichtige Einsatz dopaminerger Substanzen erwägenswert, z.B. L-Dopa (z.B. in Madopar®50mg/12,5mg), Beginn mit niedrigen Dosierungen von Madopar®50mg/12,5mg 3×1.
  • Sexualhormonpräparate sollten nur bei zwingender Indikation verordnet werden. Frauen im gebärfähigen Alter sollten über Alternativen zur „Pille“ informiert werde; Frauen mit klimakterischen Beschwerden sollten Östrogene allenfalls als lokal wirksame Vaginalzäpfchen einnehmen.

Krankengymnastik

Das Übungsprogramm sollte über die speziellen Bedürfnisse des jeweiligen Patienten du des Krankheitszustandes zwischen Krankengymnasten und Patienten erarbeitet und vom Patienten und den Angehörigen gemeinsam weitergeführt werden. Methoden auf neurophysiologischer Basis haben sich bewährt. Besonders bei der Westphal-Variante ist Krankengymnastik regelmäßig und langfristig erforderlich.

Ergotherapie

Eine möglichst sinnvolle und freudebereitende Beschäftigung des Patienten ist anzustreben, wobei er zunächst so lange wie möglich in seinem bisherigen Arbeitsumfeld belassen werden sollte. Angemessene und sinnvolle Beschäftigung ist oft in beschützenden Werkstätten möglich.

Logopädie

Die Sprechschwierigkeiten sollten gezielt von logopädischer Seite angegangen werden. Auch hier gilt es möglichst frühzeitig mit den Übungen zu beginnen. Angehörige können die Betreuung mitübernehmen.

Rehabilitation

Nach Möglichkeit sollte der Patient in 2-jährigem Rhythmus eine stationäre neurologische Rehabilitation durchführen. Entspannungstechniken, z.B. autogenes Training, sollten vom Patienten und auch von der ebenfalls stark geforderten Partnern erlernt werden. Überlegungen zum Therapieplan sollten die gesamte Lebenssituation des Patienten einschließlich dessen Familienbereich und Arbeitsbereich einbeziehen.

Ernährung

Sehr wichtig ist ausreichende Kalorienzufuhr. Ein Gewichtsverlust ist zu vermeiden. Bei untergewichtigen Patienten sind manchmal 6-8 sehr kalorienreiche Mahlzeiten (3000-4000kcal) pro Tag erforderlich. Wöchentliche Gewichtskontrollen! Die Hauptmahlzeiten sollten ausgewogen mineral-, vitamin- und ballaststoffreich sein. Als Zwischenmahlzeiten werden kohlenhydratreiche Speisen empfohlen. Dem Verlangen nach Süßigkeiten, das von 2/3 der Patienten empfunden wird, sollte man großzügig nachgeben. Ein höheres Zuckerangebot kann dazu beitragen, die zerebrale Glukosesituation zu verbessern. Bei Auswahl und Zubereitung der Nahrungsmittel sollte darauf geachtet werden, dass keine Schluckbeschwerden entstehen (breiige Konsistenz). Vermeidung krümeliger und zu dünnflüssiger Nahrungsmittel. Genußgifte wie Nicotin und Coffein sollten äußerst sparsam konsumiert werden, auf Alkohol ist wegen Verstärkung der Symptomatik absolut zu verzichten.

Psychotherapie

Eine frühe Diagnostestellung ist besonders für das weitere seelische Befinden des Patienten (und auch seiner Familie) wichtig. Eine Kontaktaufnahme mit Selbsthilfeorganisationen der Huntington-Familien sollte erfolgen.

Links

Von P.A. Prentice gibt es ein Handbuch für Betreuungspersonen. Die deutschsprachige Übersetzung ist über DHH zu beziehen.

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