Tardive Dyskinesien

Definition

Tardive Dyskinesie-Syndrome treten während und nach der Exposition mit Dopaminrezeptorblockern auf. Ein wesentliches Kriterium ist die Persistenz auch lange nach dem Absetzen der verursachenden Pharmaka. Typischerweise werden die tardiven Dyskinesie-Syndrome schlechter, oder machen sich oft erst bemerkbar bei Absetzen der Dopaminrezeptorblocker und bessern sich bei ihrem Wiedereinsatz oder Erhöhung der Dosis.

Der Begriff „tardiv“ (spät) wurde eingeführt, weil das Syndrom zunächst bei Patienten beschrieben wurde, die chronisch Dopaminrezeptorblocker (Neuroleptika) einnahmen. Es gibt nun genügend Berichte, dass tardive Dyskinesie-Syndrome nicht „spät“, sondern schon kurze Zeit, sogar innerhalb von Tagen, nach der Verabreichung von Dopaminrezeptorblockern auftreten können. Als Kriterien für eine Diagnose eines tardiven Dyskinesie-Syndroms wird die Dauer der Latenz zwischen Exposition mit einem Dopaminrezeptorblocker und dem Auftreten der Bewegungsstörung sowie die Dauer der Persistenz nach Absetzen des induzierenden Pharmakons kontrovers diskutiert. Kürzlich ist 6 Monate als maximale Latenz und ein Monat als minimale Persistenz vorgeschlagen worden.

Unter dem Begriff tardive Dyskinesie kann man heute mindestens drei eigenständige Syndrome abgrenzen.

Klassische tardive (orobuccolinguale) Dyskinesie

mit kauenden, grimassierenden eher rhythmischen Bewegungen im Kieferbereich, Zungen- und Mundbereich, mit Zungenwälzen in Ruhe, eventuell gelegentliches Herausfahren der Zunge aus dem Mund („fly catchers tongue“). Die Symptomatik ist bei einer ausgeprägten Form so charakteristisch, dass kaum eine Differentialdiagnose in Betracht kommt. Die Atmung kann zusätzlich in Mitleidenschaft gezogen sein. Häufig sind zusätzlich rhythmische Bewegungen der Hände wie „Klavierspielen in der Luft“ und Wippen des Rumpfes, (Beckendyskinesie, kopulatorische Dyskinesie).

Tardive Dystonie

Sie kann phänomenologisch von einer idiopathischen Dystonie nicht zu unterscheiden sein, wenn nicht zusätzliche Symptome wie Akathisie oder eine klassische (orobuccolinguale) Dyskinesie auf die symptomatische Form hinweist. Jugendliches Alter, männliches Geschlecht, Retrocollis versus Torticollis, axiale Dystonie sind bei der tardiven Form jedoch häufiger als bei der idiopathischen Form zu finden.

Tardive Akathisie

Sie spricht nicht auf Betablocker an (wie dies die akute Form tut). Sie ist schwer zu behandeln und persistiert.

  • Die tardive Dystonie und Akathisie stellen in den meisten Fällen eine viel beeinträchtigendere und therapierelevantere Störung als die klassische orobuccolinguale Dyskinesie dar, die von einem Teil der Patienten subjektiv kaum erlebt wird.

Therapie

Prevention

  • Da eine sichere und effektive Therapie der tardiven Dyskinesie-Syndrome nicht existiert, liegt das Schwergewicht auf der Vorbeugung.
  • Die Indikation für eine langdauernde Neuroleptika-Therapie sollte streng gestellt werden: chronische Angstzustände, Persönlichkeitsstörungen, Dyspepsie und chronischer Schwindel gehören nicht hierher.
  • Generell sollte die niedrigste, noch wirksame Dosis angewendet werden, also individuelle Anpassung und regelmäßige Überprüfung der erforderlichen Dosis.
  • Falls möglich, sollten kurzwirkende Präparate in einer einmaligen Abenddosis verabreicht werden. Depotpräparate scheinen ein höheres Risiko für die Entwicklung eines tardiven Dyskinesie-Syndroms behaftet zu sein. Bei parenteralen Depotpräparaten können die Intervalle oft allmählich verlängert werden.
  • Die zulässige Tageshöchstdosis nimmt mit dem Alter ab; bei Patienten > 60LJ ist besondere Vorsicht geboten.
  • Es ist wahrscheinlich, wenn auch bis jetzt unbewiesen, dass das Risiko für das Auftreten von Spätdyskinesien mit der Dauer der Neuroleptika-Therapie wächst. Je früher das dyskinetische Syndrom entdeckt und das Neuroleptikum abgesetzt wird, desto besser sind die Chancen für die vollständige Rückbildung.
  • Ein medikamentös induziertes Parkinson-Syndrom kann die ersten Anzeichen einer Spätdyskinesie maskieren; ein Parkinson-Syndrom sollte als Begleiterscheinung einer Neuroleptika-Behandlung daher nicht über längere Zeit in Kauf genommen werden.
  • Anticholinergika können manifeste tardive orobuccolinguale Dyskinesien verschlimmern und in der Behandlung tardiver Dystonien hilfreich sein (im Gegensatz zu den akuten Dyskinesien!).

Therapie bei bereits eingetretenen Spätsymptomen

  • Sofortiges Absetzen des Neuroleptikums, auch wenn dies vorübergehend zu einer Verschlimmerung der Symptome führen kann. Man erhofft sich eine allmähliche Besserung über Monate und Jahre. Dosissteigerung führt zwar oft zur Unterdrückung der Symptome, jedoch ist dieser „Therapieerfolg“ meist nur vorübergehender Natur.
  • Wo aus psychiatrischer Indikation das Absetzen des Neuroleptikums nicht möglich ist, sollte wenigstens eine Dosisreduktion oder ein Übergang auf Clozapin (LeponexŽ) unter den üblichen Einschränkungen für dieses Präparat (wöchentliche Blutbildkontrolle erste 18 Wochen) versucht werden.

Dopaminspeicher-entleerende Pharmaka

Eine Reihe von Substanzen setzt die präsynaptische Neurotransmitterspeicherung herab:

  • Tetrabenazin (Medikamentöse Therapie der Dystonien) wirkt ähnlich wie Reserpin und scheint bei allen Formen der tardiven Dyskinesie-Syndrome das effektivste, wenn auch nebenwirkungsreichste Medikament zu sein. Der Effekt setz jedoch mit geringerer Latenz ein und die Dopaminspeicherentleerung soll nach 24h reversibel sein (bei Reserpin eine Woche Latenz). Bei Tetrabenazin ist der blutdrucksenkende Effekt weniger ausgeprägt als bei Reserpin.
  • Eine Kombination mit dem bei Phäochromozytom verwendeten Antihypertonikum Methyltyrosin (Anmerkung: im Medikamentenverzeichnis nicht gefunden) verstärkt den zentralen dopaminverarmenden Effekt und potenziert die erwünschten und unerwünschten Effekte von Tetrabenazin. Ein leichter parkinsonoider Effekt muß wahrscheinlich für eine Symptomenreduktion in Kauf genommen werden.
  • Kombination von Tetrabenazin und Lithium sollten sich günstig auf Wirkungs- und Nebenwirkung auswirken.
  • Reserpin (Brinerdin®-Drg) wirkt zentral sedierend und peripher blutdrucksenkend. Reserpin soll in Tagesdosen von 1-5mg Spätdyskinesien unterdrücken (einschleichen dosieren); dabei tritt aber oft ein Parkinsonoid auf. Reserpin findet (oder fand) selbst als Neuroleptikum Anwendung; ob es seinerseits Spätdyskinesien hervorrufen kann, muß offenbleiben.
  • a-Methyldopa (A: Aldometil®, D: Presinol®) hat komplizierte periphere und zentrale Wirkungen auf Synthese, Speicherung und postsynaptische Effekte der Catecholamine. Einer Studie zufolge hat es bei Spätdyskinesien in Tagesdosen von 750-1000mg zur Besserung geführt. KI: akute Lebererkrankungen.

Dopaminrezeptor-blockierende Pharmaka

Bei leichten orobuccolingualen Dyskinesien kann Tiaprid (Delpral® Amp, tbl – je 100mg) in einer einschleichenden Dosierung von 300-1000mg/d versucht werden. Wie erwähnt, beseitigt eine Steigerung der Dosis des Neuroleptikums oft vorübergehend die auftretenden Spätdyskinesien. Sie brechen dann aber in der Regel um so stärker wieder durch. Man wird sich zur Verabreichung eines klassischen Neuroleptikums entschließen, wenn trotz anderer medikamentöser Versuche einschließlich Clozapin (Leponex®, unter den für dieses Präparat erforderlichen Blutbildkontrollen) weiterhin eine schwerwiegende klinische Symptomatik besteht (CK-Erhöhung, pharyngeale Dystonie mit Indikation zur Tracheotomie) oder sich die Symptomatik über fünf Neuroleptika-freie Jahre nicht zurückgebildet hat. Man kann nach einem solchen Zeitraum davon ausgehen, dass das Warten auf eine spontane Symptomreduktion wahrscheinlich aussichtslos ist. Bei vorwiegend dystoner Komponente bewährt sich der

  • Cocktail
    • Trihexyphenidyl (A: Artane® 2mg tbl, 5mg tbl, 5mg ret tbl)
    • Pimozid (A: Orap® 1mg tbl, 4mg forte tbl)
    • Tetrabenazin (Tedmodis®)

Weitere Therapie siehe Medikamentöse Therapie der Dystonien

Lokale Injektionen von Botulinum-Toxin A

Sie sind ausschließlich für die Behandlung der tardiven Dystonien in ihrer fokalen Form in Analogie zu anderen symptomatischen und idiopathischen Varianten zu empfehlen. Ein spezielles Problem stellt der Retrocollis mit axialer Komponente dar, der vorwiegend bei der tardiven Form bei jüngeren Männern auftritt. Dabei sind sehr hohe therapielimitierende Dosen von Botulinum-Toxin notwendig (bis zu 4000 Porton-Down-Mäuse-Einheiten) um positive Effekte zu erzielen.

Sonstige medikamentöse Therapie

Behandlungserfolge sind berichtet worden für

  • Lithium (Quilonorm®)
  • Papaverin
  • Benzodiazepine
  • Barbiturate
  • Propranolol (A: Inderal®, D: Dociton®)
  • Baclofen (A/D: Lioresal®) soll den Effekt von Dopaminantagonisten verstärken.

Schreibe einen Kommentar