Migräne

Epidemiologie

In den letzten Jahren wurden einige Studien durchgeführt, die sich auf die Klassifikation der Kopfschmerzen der IHS 1988 stützten. Ergebnis:

  • Prävalenz ca. 12% – ein Drittel davon haben Beeinträchtigung von Leben und Arbeit (abhängig von Frequenz, Dauer und Stärke der Kopfschmerzen)
  • Die Migräne kann in jedem Alter auftreten
  • 3-5% findet man vor der Pubertät
  • äußerst selten vor dem 3. Lebensjahr
  • Geschlechtsverteilung
    • vor der Pubertät 1:1
    • danach Frauen zu Männer 3:1
  • im Alter nimmt die Häufigkeit deutlich ab
  • über dem 50LJ Neuauftreten selten – wichtig für Differentialdiagnosen (primär organische Ursache der Kopfschmerzen?)
  • im Verlauf der Jahre kann es zur starken Variation der Migräneattacken kommen (Dauer, Begleitsymptomatik und Intensität)
  • Spontanremissionen sind möglich
  • 30% der Betroffenene finden die Migräne als starke Beeinträchtigung des Lebens und der Arbeit

Klinik

Die Migräne läuft attackenförmig ab. Eine Attacke besteht aus 4 Phasen:

Prodromalphase

Die Prodromalphase kann dem Kopfschmerz um Stunden bis Tage vorausgehen. Sie wird von den Patienten sehr unterschiedlich wahrgenommen. Manche finden sie sehr ausgeprägt, andere wiederum nehmen sie gar nicht wahr.

Mögliche Symptome sind

  • Reizbarkeit
  • Müdigkeit, Abgeschlagenheit
  • Heißhunger oder Appetitlosigkeit
  • gehobene oder gedrückte Stimmung
  • erschwerte Sprache oder Logorrhoe
  • Ödeme

Aura

Sie ist klar abgrenzbar und stellt eine fokale kortikale Funktionsstörung dar. Es ist hierbei vorwiegend derokzipitale, visuelle Kortex  betroffen.

  • Entwicklung innerhalb von 4 Minuten
  • Dauer 15-20 Minuten (max. 60 min)
  • Symptome (des visuellen Kortex, als Fortikfikationsphänomene bezeichnet) – man muss oft gezielt danach fragen, da die Patienten diese nicht immer als der Migräne zuordnen und von sich aus nicht erwähnen. Es zeigt sich häufig ein typischer Ablauf:
    • Flimmern vor den Augen (bzw. Flimmerskotome)
    • in einer Gesichtshälfte tritt ein leuchtender Punkt auf, der sich  allmählich in ein halbes, offenes Oval mit flimmernden Rändern („Mauer des Forts“) öffnet
    • mit 3mm/min gegen den Gesichtsfeldrand ausweitet
    • und dann in 10-20min aus dem Gesichtsfeld verschwindet
  • häufige (andere) Auren sind über Minuten sich entwickelnde
    • Hemianopsien
    • Hemiparesen
    • Hemihypästhesien
    • Aphasien

Die Aura kann verschieden enden

  • Übergang in einen typischen Migränekopfschmerz (innerhalb einer Stunde): Migräne mit Aura
  • Aufeinanderfolgen von mehreren Auren über mehrere Stunden (auch in die Kopfschmerzphase hinein): prolongierte Aura
  • besonders komplexe Auren lassen auf eine Beteiligung des Hirnstammes schließen
  • tritt kein Kopfschmerz nach der Aura auf, spricht man von einer Aura ohne Migräne

DD zur Aura

  • TIA: tritt plötzlich auf
  • Jacksonmarsch: entwickelt sich innerhalb von Sekunden

Migränekopfschmerz

Die Kopfschmerzphase lässt einige typische Charakteristika erkennen

  • Lokalistation
    • meist einseitiges Auftreten
    • Kopfschmerz bleibt einseitig oder breitet sich auf die zweite Kopfhälfte aus
    • auch beidseitiges Beginnen ist möglich (occ. oder frontal)
  • Intensität
    • mittelstark bis stark
  • Charakter – gut beobachten, da wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu anderen Kopfschmerzformen
    • pochend
    • klopfend
    • pulsierend
  • Verstärkung durch
    • Vorneigen
    • körperliche Aktivität
    • als DD-Kriterium zu Spannungskopfschmerz, bei dem keine Verstärkung
  • Begleiterscheinungen zum Migränekopfschmerz
    • Übelkeit, Erbrechen
    • Überempfindlichkeit gegen äußere Reize
      • insbesondere Licht und Lärm werden unangenehm empfunden und veranlassen den Pat. einen dunklen abgedunkelten Raum aufzusuchen, bzw. sich zu einem Schlaf zurückzuziehen
  • Dauer der Kopfschmerzphase
    • 4-72 Stunden

Postdromalphase

Man findet recht uncharakteristische Symptome, am häufigsten sind

  • Müdigkeit, Abgeschlagenheit
  • depressive Verstimmung
  • verminderte Leistungsfähigkeit
  • geringe Belastbarkeit
  • Polyurie

Diagnostik

Es gibt keine spezifischen Untersuchungsmethoden und auch keine sonstigen Merkmale, die speziell für die Migräne gelten. Für die Diagnose ausschlaggebend sind Anamnese und exakte Beobachtung des Patienten (evtl. mit Kopfschmerztagebuch). Für die Diagnose werden die Kriterien der IHS 1988 (Internationale Kopfschmerzgesellschaft) herangezogen.

Differentialdiagnose zur Migräne

Spannungskopfschmerz

  • Lebenszeitprävalenz 78%
    • 3-4% davon sind der chronischen Form zuzurechnen
  • 20-25% davon  leiden stark darunter
  • aufgrund der hohen Prävalenz muss angenommen werden, dass bei 30% der Migränepatienten auch Spannungskopfschmerzen vorkommen (auch gleichzeitig)
  • Unterscheidung
    • Migränekopfschmerz ist pulsierend, pochend
    • Spannungskopfschmerz ist dumpf
    • durch Bewegung und Aktivität wird der Spannungskopfschmerz nicht verstärkt
  • Therapie: siehe Seite Spannungskopfschmerz

Clusterkopfschmerz

  • Abgrenzung zu Migräne weniger schwierig
  • heftigste idiopathische Kopfschmerz
  • es treten Attacken in Clustern (Serien) auf
  • Dauer einer Attacke 15min – 3 h
  • Lokalisation im Stirn/Augen/Schläfenbereich
  • begleitend Lacrimation und Rhinorhoe auf der selben Seite
  • eine Kombination mit einer Migräneattacke ist möglich und kann diagnostische Probleme bereiten
  • Therapie: siehe Seite Clusterkopfschmerz

Genetik

  • neuronale Kanalkrankheit wird diskutiert
  • Gendefekte auf Chromosom 19 und Chromosom 1
    • werden für familiäre hemiplegische Migräne verantwortlich gemacht
    • es wird hier ein neoronaler Kalziumkanal (falsch) kodiert
    • Verwandtschaft mit Migräne (mit und ohne Aura) scheint gegeben
  • bei der genetisch bedingten Migräne nimmt häufig die Intensität mit jeder Generation zu
    • d.h. unterschiedliche Penetranz der genetischen Störung

Pathogenese

Auslösung

  • der Pathomechanismus der Migräne ist großteils bekannt
  • einige Glieder der Kette des Ablaufs fehlen
  • der Anfang (der Starter) ist nicht eindeutig
  • Auslösung der Aura
    • eine „Spreading-Depression“ wird als Auslöser diskutiert (unbewiesen)
      • insbesondere die über Minuten ausbreitende, kortikale, fokale Symptomatik während der Aura werden damit erklärt
      • PET-Untersuchungen und magnetenzephalographische Untersuchungen, die in der Frühphase der Migräneattacke gemacht wurden, legen den Verdacht nahe, dass dies so sei
        • in der Frühphase der Migräneattacke kommt es zu einer von okzipital nach frontal ausbreitendenOligaemie in der Hirnrinde
        • eine kurze Exazerpationsphase (mit Negativierung des kortiaklen DC-Potentials) geht der langsam sich ausbreitenden (3mm/min) Depressionswelle voraus
    • Magnesium-Mangel im Gehirn
      • wird mit einer erhöhten kortikalen Exzitabilität in Verbindung gebracht
      • eine Übererregbarkeit der NMDA-Rezeptoren auf Glutamat ist die Folge (?)
  • neuere PET-Untersuchungen geben den Hinweis, dass der Migränekopfschmerz vom Hirnstamm ausgehen könnte
    • das vaskuläre System des N. trigeminus scheint betroffen zu sein
    • über den N. trigeminus wird dann die bekannte neurogene Entzündung der großen Hirngefäße und Duragefäße in Gang gesetzt
    • eine antidrome Reizung der sensiblen C-Fasern (welche die großen Hirngefäße versorgen), führt zu einer erhöhten Ausschüttung von Neuropeptiden
      • Substanz P
      • Neurokinin A
      • Calcitonin Gen Related Peptide
      • u.a.
    • dies sind Entzündungsmediatoren, welche folgende Wirkung haben
      • präkapillär: Gefäßdilatation
      • postkapillär:  venöse Plasmaextravasion
      • Endothel: Ausscheidung von Prostaglandin und NO
      • Mastzellen: degranulieren und scheiden Histamin aus
      • Ausschüttung von Bradykinin
    • NO (Stickoxid)
      • wie oben angeführt, ist dies eventuell ein wichtiger Stoff in der Entstehung der Migräne
      • eine primäre Überempfindlichkeit gegen NO wird diskutiert
      • Therapiemöglichkeiten in diese Richtung gibt es noch keine

Gegenregulation

  • 5-HT1D-Rezeptoren finden sich an den freien Enden der C-Fasern des Trigeminus
    • vorwiegend an den großen Gehirngefäßen und an den Duragefäßen lokalisiert
      • ihre Aktivierung bewirkt Hemmung der Ausscheidung der Neuropeptide
    • man findet sie aber auch an den kaudalen Trigeminuskernen
      • Aktivierung dieser Lokalisation soll die Schmerzhemmung verursachen
  • 5-HT1B-Rezeptoren 
    • bewirken Vasokonstriktion durch Aktivierung der Muskelfasern der Gefäßwände
  • selektiven 5HT1D/1B-Rezeptor-Agonisten  werden eingesetzt um die Migräne im Ablauf positiv zu beeinflussen. Dies sind
    • Naritriptan
    • Rizatriptan
    • Sumatriptan
    • Zolmitriptan
  • Dihydroergotamin
    • wirkt am 5HT1D-Rezeptor
    • es ist als Vasokonstriktor weniger selektiv
    • seine Wirkung beruht auf andere Mechanismen
  • Salizylate und NSAR
    • wirken über die entzündungshemmende Schiene
  • 5-HT2-Rezeptor-Antagonisten
    • werden in der prophylaktischen Behandlung der Migräne erfolgreich eingesetzt
  • Betablocker und Calziumantagonisten
    • die Wirkung beruht auf die Senkung der erhöhten kortikalen Erregbarkeit, welche als Auslösefaktor der Migräne angesehen werden
    • diese Substanzen werden daher in der Prophylaxe eingesetzt
  • Antidepressiva
    • sie wirken durch Erhöhung des Serotonin-Spiegels – Schmerzhemmung im Bereich der zentralen, deszendierenden Trigeminusfasern soll die Wirkung sein (5-HT1B-Rezeptoren)

Therapie

Die Art der Behandlung richtet sich nach Schwere und Häufigkeit. Eine Heilung ist nicht möglich, lediglich eine Symptomlinderung.

Auslöser vermeiden

Vorab sollten mögliche auslösende Faktoren ausgeschaltet werden. Dies können sein

  • Umwelteinflüsse
    • Wetterveränderungen
    • Licht (spiegelnde Flächen, Flackerlicht, grelles Licht)
    • Gerüche (Zigarettenrauch, Parfum, Abgase)
    • Temperaturen (zu heiß oder zu kalt)
    • Lärm
  • Nahrungsmittel
    • Alkohol (speziell Rotwein, Bier, Sekt)
    • Speisen, die Nitrit (Pökelsalz) enthalten
      • Speck, gepökeltes Fleisch, Fischkonserven, geräucherter Lachs, Hot dogs
    • Speisen mit Natriumglutamat
      • Fertiggerichte (Suppen, insb. Trockensuppengemische, Saucen)
      • chinesische Gerichte
      • Innereien: Leber (insb. Hühnerleber), Nieren
      • reifer Käse, Schimmelkäse
    • Schokolade
    • verschieden Früchte, insbesondere Zitrusfrüchte
    • geröstete Nüsse
    • u.a.
  • emotionelle Einflüsse
    • Depression, Stress, Angst, Ärger
    • Entspannung nach Anstrengung
    • Arbeiten
  • Medikamente
    • Nitropräparate
    • Antihypertonika
    • Antibabypille
    • u.a.
  • Lebensgewohnheiten
    • unregelmäßiges Essen
    • zuwenig (auch zuviel) Schlaf
    • Rauchen
    • zuviel Kaffee – oder Weglassen, etwa am Wochenende

Therapie durch den Patienten – zuhause

  • Domperidon (z.B. Motilium®) 10mg tbl
    • oder Metoclopramid (z.B. Paspertin® 5-10mg (15-30gtt)
  • Paracetamol (z.B. Mexalen®) 1g (=2tbl)
    • oder Acetylsalicylsäure (z.B. Aspirin®) 1-4g/d
  • Ergotamintartrad (CafergotŽ) 1Supp: Kann bei den ersten Vorboten (Unruhe, Flimmerskotome, Lichtscheu) genommen werden; hilft jedoch in der Regel nicht mehr, wenn der Anfall bereits begonnen hat.
    • Eine rasche Resorption ist mit einem Aerosol möglich (z.B. D: Ergotamin-MedihalerŽ)
  • Cave: Kontraindikation bei allen Ergotamin-Präparaten, insbesondere bei i.v. Gabe: koronare Durchblutungsstörungen, Angina pectoris, Hypertonie. Keine Daueranwendung von Ergotamintartraten wegen der Gefahr des Ergotismus (selten) und des Ergotamin-induzierten Kopfschmerzes (häufig).
  • Sumitriptan (z.B. Imigran®) 100mg oral oder 6mg s.c. mit einem Autoinjector. Spezifischer Serotonin-Agonist, neu eingeführt, gilt aufgrund zahlreicher Studien als äußerst wirksam. Leider (noch) sehr teuer (A: Chefarztpflichtig!). Indikation heute bei therapieresistenten, anders nicht beherrschbaren Migräneattacken.
  • Cave: Angina pectoris, Hypertonie

akuten Notfall

Intervalltherapie (Dauer 2-3 Monate)

Mittel der ersten Wahl sind die Betablocker Propranolol und Metoprolol, sowie der Calciumantagonist Flunarizin. Wenn eines dieser Medikamente nicht ausreicht, kann man auch einen Betablocker mit Flunarizin kombinieren (mit höherer Erfolgsrate). Wenn eine begleitende Depression vorhanden ist, kann sollte auch Antidepressiva zur Migränebehandlung einsetzen – Betablocker werden auch bei der kindlichen Migräne eingesetzt, die Dosierung erfolgt hierbei nach Gewicht (siehe Fachinformation).

Mittel der zweiten Wahl sind Valproinsäure, Naproxen, Acetylsalicylsäure, Dihydroergotamin und Amitriptylin. Diese Mittel kommen erst zum Einsatz, wenn die Mittel der ersten Wahl nicht wirksam sind. Antidepressiva erweisen sich wirksam, wenn Migräne mit einem Spannungskopfschmerz zusammentrifft – Trizyklika ist aufgrund ihres Rezeptorprofiles der Vorzug zu geben.

Als Mittel der dritten Wahl können angesehen werden: Magnesium, Nimodipin, Verapamil, Lisurid, Lithium.

  • Betablocker: Unter RR- und Pulskontrole (Bradykardie):
    • Propranolol (A: InderalŽ, D: DocitonŽ) 2x20mg bis 240mg/d
    • Metoprolol (A/D: BelocŽ, A: (neuer) SelokenŽ) 100mg bis 200mg/d
  • Calciumantagonisten
    • Flunarizin (A/D: SibeliumŽ, A: AmaliumŽ) 5mg bis 10mg/d (Erfolg: 40-68%)
    • Verapamil (A: IsoptinŽ) 3x80mg bis 360mg/d (Erfolg: 29-60%)
    • Calciumantagonisten haben häufig geringen Erfolg, aber auch geringe Nebenwirkungsrate:
      • Gewichtszunahme
      • Müdigkeit
      • Magenschmerzen
      • EPMS-Störungen
    • Kontraindikationen
      • Schwangerschaft
      • AV-Block
      • Überleitungsstörungen
  • Naproxen (A/D: ProxenŽ) 2x500mg/d
    • z.B. besonders bei menstrueller Migräne geeignet

Behandlung unter Analgetika-Entzuge

  • Doxepin (A: SinequanŽ, D: AponalŽ) 25-75mg/d
    • plus: Naproxen (A/D: ProxenŽ) 2x500mg/d
  • Amitriptylin (SarotenŽ ret) 0-0-25 oder 50mg bis 25-25-75mg
    • besonders wirksam, wenn gleichzeitig Symptome von Spannungskopfschmerz vorliegen (Kombinationskopfschmerz). Der analgetische Effekt der Trizyklika ist unabhängig vom antidepressiven Effekt.

letzte Bearbeitung: 12.April 2000

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