Myasthenia gravis

Klinik

Schwäche der Skelettmuskulatur und rasche Ermüdbarkeit unter Belastung sind die charakteristischen Kennzeichen der Myasthenia gravis (MG). Nicht selten beginnt die Erkrankung mit passageren okulären Symptomen, gefolgt von generalisierten Symptomen. Der Verlauf ist sehr variabel mit Remissionen und Rezidiven. Es gibt mehrere klinische Klassifikationen für die unterschiedlichen Verlaufsformen. Am weitesten verbreitet ist die Einteilung nach Ossermann, die im Verlauf der Jahre wiederholt modifiziert wurde:

  • Gruppe I
    • rein okuläre MG
  • Gruppe II A
    • mild generalisierte MG mit okulären Symptomen
  • Gruppe II B
    • deutlich generalisierte MG mit mild ausgeprägter bulbärer Schwäche.
  • Gruppe III
    • akute schwerste generalisierte MG mit Bulbärparalyse und Ateminsuffizienz
  • Gruppe IV
    • chronische schwere generalisierte MG, die sich zumeist aus Typ II und III entwickelt.

Eine für den Therapieverlauf besser geeignete Klassifizierung ergibt sich aus einem quantitativen MG-Score, bei welchem Muskeln unterschiedlicher Körperregionen in ihrer Ermüdbarkeit gemessen werden.

Pathogenese

Ursache der neuromuskulären Übertragungsstörungen der MG sind zirkulierende Antikörper gegen die postsynaptischen Acetylcholinrezeptoren (AchR-AK). Diese können im Blut von Patienten mittels RIA gemessen werden.

Diagnostik

Diagnostik

Tensilon®-Test

Messung der Ermüdbarkeit einer betroffenen Muskelgruppe (z.B. Armvorhaltezeit). Dann initiale Gabe von 2-3mg, um starke cholinerge Nebenwirkungen zu vermeiden (Schwitzen, Speichelfluß, Diarrhoe, Bradykardie etc.). Erneute Messung nach etwa 45-60s. Wenn kein Effekt und keine cholinergen Symptome zu beobachten sind, kann die Tensilon®-Dosis auf 10mg erhöht werden.

Elektromyographie (EMG) mit repetitiver Stimulation

Messung der Amplitudenreduktion bei repetitiver Stimulation mit 3, 5 oder 10Hz. Stimulationsort ist der N. ulnaris mit Ableitung über dem M. abductor digiti minimi oder N. axillaris mit Ableitung über dem M. deltoideus. Verstärkung des Dekrementes durch vorherige tetanische Kontraktion des abgeleiteten Muskels und Kombination mit dem Tensilon®-Test heben die diagnostische Wertigkeit der EMG-Untersuchung bei MG bis zu 85% (Dekrement auch bei neuromuskulären Erkrankungen). Ein reproduzierbares Dekrement von 15% ist diagnostisch positiv.

Einzelfaser-EMG

nach Jitter.

Acetylcholinrezeptorantikörper-Messung

Die radioimmunologische Messung der AchR-AK ist der empfindlichere und spezifischere diagnostische Test für die MG. Im Falle einer generalisierten Erkrankung ist ein über den Referenzbereich von 0,4nmol/l erhöhter AchR-AK-Titer für die Erkrankung beweisend (prädiktiver Wert 98%!). Falsch-negative Titer kommen vereinzelt vor (ca. 2%). Bei den rein okulären Erkrankungen sind die AchR-AK-Titer in etwa 50% der Fälle erhöht.

Immundiagnostik

Die MG ist als Autoimmunerkrankung nicht selten mit anderen immunologischen Phänomenen vergesellschaftet. Jede Abklärung einer MG sollte daher eine Reihe von Untersuchungen des Immunsystems enthalten

  • Abklärung der Schilddrüse, insbesondere AK
  • Thymusuntersuchung
  • Mediastinal-CT mit Kontrast oder MR
  • Immunelektrophorese
  • Komplementaktivität
  • AK gegen quergestreifte Muskulatur (Korrelation mit Thymom)
  • Rheumafaktoren
  • Anti-DNA-AK

Therapie

Cholinesterase-Hemmer

Anticholinesterasen inhibieren den Abbau von Acetylcholin durch Cholinesterase im synaptischen Spalt, sodaß trotz AchR-AK-Besetzung der Rezeptoren eine Übertragung stattfinden kann (kompetitiver Mechanismus).

Nebenwirkung

vorwiegend periphere postganglionäre cholinerge Effekte wie Schwitzen, Speichelfluß, Diarrhoe, Bradykardie, etc. Keine zentralnervöse Nebenwirkung, da die Blut-Hirn-Schranke nicht überschritten wird. Minderung der Nebenwirkung en durch Einnahme der Cholinesterase-Hemmer nach den Mahlzeiten. In Ausnahmefällen (deutliche cholinerge Symptomatik) Atropin 3-4×0,1mg/d p.o.

Dosierung

  • Mestinon® (Pyridostigmin) ist der gebräuchlichste Cholinesterase-Hemmer. Die initiale Dosierung liegt bei 4x60mg/d p.o. Empfehlenswert sind feste Einnahmezeiten (z.B. um 7, 11, 15, 19 Uhr). Die Gabe von Mestinon® retard 180mg ist lediglich notwendig bei ausgeprägten nächtlichen Schwächezuständen oder bei Kau-/Schluckschwäche in den Morgenstunden, die eine orale Medikation verhindert.
  • Prostigmin® 0,5mg Ampullen: Dosierung sehr variabel, individuelle Einstellung, höhere Toxizität für die Endplatten als Pyridostigmin (Mestinon®).

Die parenterale Dosierung ist nur bei starken Kau- und Schluckstörungen notwendig und evtl. unter den Bedingungen der Intensivpflege vorteilhaft. Bilanzierung durch MG-Score-Kontrollen notwendig. Die parenterale Dosis von Pyridostigmin ist in der Regel 1/30 der oralen Dosis.

  • evtl. zusätzlich Kalium (Kali-Oral®) zwischen den Mestinon®-Einnahmen
  • evtl. Atropin sulfat 4 x 0,25-0,5 tbl bei starker Muskarin-Nebenwirkung.

Immunsuppressiva

Immunsuppression

Aufgrund der Immunpathogenese der MG, ist es möglich mit Immunsuppressiva zu therapieren. Indikationen sind

  • mangelhafter Besserung durch alleinige Therapie der Cholinesterase-Hemmern, insbesondere bei Bulbärsymptomen (eine Überschreitung der Mestinon®-Dosis bei Monotherapie um mehr als 4 x 120mg/d ist nicht empfehlenswert)
  • Vorbereitung zur Thymektomie
  • mangelhafter klinischer Besserung nach Thymektomie und bei okulärer MG, wenn die Doppelbilder im Alltagsleben zu einer Behinderung führen.

Azathioprin(Imurek®)

  • Dosierung: 2-2,5mg/kgKG/d p.o., bei Normalgewichtigen in der Regel 3 x 50mg/d
  • Die Dauer bis zum Eintritt der immunsuppressiven Wirkung mit Abnahme der AchR-Ak beträgt mindestens 6 Wochen, in der Regel 3-6mon.
  • Nebenwirkung: Übelkeit, Magenschmerzen, mitunter Leberschädigng sowie eine Hemmung der Knochenmarksfunktionen:
  • Lymphopenie
  • Thrombopenie
  • Eyrthrozytopenie
  • Die Möglichkeit, dass unter Langzeittherapie mit Azathioprin Lymphome und andere Tumoren auftreten können, muß vor allem bei der Therapie junger Patienten bedacht werden ð Immunsuppressivum der 1. Wahl.
  • Laborkontrollen zur therapeutischen Sicherheit
    • Blutbildkontrolle
    • 1x / Woche in 1.-6. Behandlungswoche
    • danach 1x / 2Wochen in 6.-12. Behandlungswoche
    • ab ¼ Jahr 1x / Monat
    • Grenzwerte: 3000 Leukos, 80.000 Thrombozyten
    • Bei Unterschreitung der Grenzwerte akute Infektionsgefahr, dann Immunsuppression unterbrechen bis zum Wiederanstieg der Werte. Evtl. stationäre Aufnahme der Patienten.
  • Absetzen der Azathioprin-Medikation führt zum Erkrankungsrezidiv innerhalb von 6-9 Monaten. Dosisreduktion auf 1-1,5mg/kgKG in zahlreichen Fällen erfolgreich möglich.

Cycloposphamid(Endoxan®)

  • Dosierung: 2,5mg/kgKG/d p.o.
  • NW: vor allem Übelkeit, Haarausfall, Knochenmarksdepression sowie Leberschädigung, erhöhtes Karzinomrisiko. Wegen der verstärkten Knochenmarksdepression Immunsuppressivum der 2. Wahl
  • In seltenen Fällen ist zur wirksamen Immunsuppression eine Kombination von Azathioprin und Cyclophosphamid notwendig.

Kombination

  • Cyclophosphamid: 2,5mg/kgKG
  • Azathioprin: 1mg/kgKG

Alternativkombination

  • Cyclophosphamid: 1mg/kgKG
  • Azathioprin: 2mg/kgKG

Kortikosteroide

Am gebräuchlichsten ist Prednison o. Prednisolon (Aprednisolon® 5mg, 25mg tbl; Prednisolon® 5mg, 25mg tbl, 25mg TrockenAmp.; Soludacortin® 25mg, 50mg, 250mg, 1g TrockenAmp.+Lösung), sowie Fluocortolon (Ultralan® 5mg, 20mg o. 50mg tbl). Alle Angaben, die im weiteren zur Dosierung gemacht werden, beziehen sich auf Prednison/Prednisolon.

  • Indikation: Die Behandlung mit Kortikosteroiden erfolgt in der Regel als zusätzliche Immunsuppression neben Azathioprin, wenn die Progredienz der myasthenischen Symptome eine rasche therapeutische Wirkung erforderlich macht (insbesondere bei deutlichen Bulbärsymptomen), die immunsuppressive Behandlung mit Azathioprin (Imurek, allein nicht zu einer befriedigenden Besserung der MG führt. Eine Therapie mit Kortikosteroiden allein ist sinnvoll, wenn eine Kontraindikation für die Therapie mit Azathioprin und Cyclophosphamid besteht oder rein Okulare Symptome zu einer Behinderung des Patienten führen.
  • Dosierung: Einschleichende Kortikosteroid-Therapie: Hochdosis-Kortikosteroide verursachen innerhalb von Tagen eine deutliche Verschlechterung der myasthenischen Symptome; eine Besserung setzt nach ca. 12-14 Tagen ein. Aus diesem Grunde wird in der Regel einschleichend dosiert.
  • Erhaltungsdosis muß individuell eingestellt werden.
  • Initialdosis Prednisolon 30mg/d p.o.
  • Dosissteigerung 10mg jeden 3.Tag
  • bis maximale Dosis von 100mg (ca. 1,5mg/kgKG)
  • halten dieser Dosierung über 8-10Tage, bis deutliche Reduktion der klinischen MG-Symptome nachweisbar sind (MG-Score-Kontrolle).
  • danach Reduktion um 10mg Prednisolon / Woche
  • bis zur Erhaltungdosis von 7,5-15mg/d
  • Hochdosis-Kortikosteroid-Therapie
  • unter Intensivüberwachung, insbesondere bei Patienten mit schweren generalisierten Symptomen, ist auch eine Initial-Hochdosis-Therapie mit 100m/d möglich
  • diese Dosis wird zur Besserung der klinischen Symptome beibehalten und dann über mehrere Wochen bis Monate auf eine Erhaltungsdosis von 7,5-15mg/d abgesenkt

Ciclosporin (Sandimmun®)

  • Dosierung: ca. 5mg/kgKG/d in zwei Dosen (Plasmaspiegel 12 h nach letzten Einnahme bei ca. 100-150mg/l
  • Nebenwirkungen:
  • Nephrotoxizität
  • Lymphom-Entwicklung
  • Hypertonie
  • Ciclosporin ist eine wirksame Substanz zur Behandlung der MG. Es bewirkt keine Knochenmarksdepression, jedoch ist die Therapie noch nicht sicher etabliert. Vor allem wegen der Nebenwirkungen ist eine strenge Indikationsstellung notwendig; derzeit nur als Alternative, wenn übliche Immunsuppression nicht möglich ist. Ciclosporin ist zur Behandlung der MG nicht zugelassen!

Allgemeinanästhesie bei Myasthenie

Alle chirurgischen Eingriffe, die eine Narkose mit Relaxation notwendig machen, müssen bei Patienten mit Myasthenia gravis genau geplant und organisiert werden. Es besteht eine Überempfindlichkeit gegen Muskelrelaxanzien. Paralyse der Skelettmuskulatur nach Narkosen mit Muskelrelaxierung, damit verlängerte Beatmungszeit. Information des Anästhesisten präoperativ über das Vorliegen und den Schweregrad einer Myasthenie ist zumeist ausreichend.

Schwangerschaft bei Myasthenie

Der Einfluß einer Schwangerschaft auf die Symptome einer MG ist unvorhersehbar. Klinische Veränderungen finden sich vorwiegend zu Beginn der Schwangerschaft und nach der Entbindung. Eine Interruptio ist aufgrund der Erkrankung selbst nicht angezeigt, sollte aber bei einer sehr schweren Symptomatik erwogen werden. Eine laufende immunsuppressive Therapie mit Azathioprin ist nach neueren Untersuchungen über die Häufigkeit von Mißbildungen keine absolute Indikation zum Schwangerschaftsabbruch. Wegen des möglichen Auftretens einer „Neugeborenen-Myasthenie“ müssen Babys von Patientinnen mit MG postpartal intensiv überwacht werden.

Medikamentöse Interaktion

Zahlreiche Medikamente wirken negativ auf die neuromuskuläre Übertragung und verschlechtern somit die Symptome einer Myasthenia gravis:

  • Antibiotika (Aminoglykosid, Tetracycline)
  • systematisch verabreichte Substanzen, die die Erregungsleitung hemmen (z.B. Procainamid, Lidocain, Phenytoin)
  • psychotrope Medikamente (Diazepam, Chlorpromazin, Lithium)
  • b-Blocker (Propranolol)
  • D-Penicillamin
  • Diuretika (Diamox®)

Der Einsatz dieser Medikamente ist daher mit Vorsicht vorzunehmen; bei guter Einstellung gibt es jedoch keine Kontraindikationen. Eine Sedierung soll möglichst mit Medikamenten erfolgen, die nicht oder nur geringe muskelrelaxierend wirken, z.B.

  • Chloralhydrat

Die Nicht Benzodiazepin-Hypnotika, wie

  • Zolpidem (Ivadal® 10mg ftbl, Stilnox® 10mg ftbl)

haben im Gegensatz zu den Benzodiazepinen keine muskelrelaxierende Wirkung, besitzen aber deren schlafanstoßende Potenz. Benzodiazepine sollten durch diese neuen Substanzen ersetzt werden.

 

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