Spastische Bewegungsstörungen

Ätiologie

Spastik entsteht durch Enthemmung der vom Hirnstamm absteigenden Bahnen.

Klinik

Es entwickeln sich beim Menschen mit einer Latenz von Wochen nach solche Läsionen:

  • gesteigerte Muskeleigenreflexe
  • enthemmte polysynaptische Reflexe
    • Flexorreflex
    • Babinski-Zeichen
  • ein erhöhter Muskeltonus
    • geschwindigkeitsabhängig
  • ein Verlust der Geschicklichkeit bei feinmotorischen Leistungen

In Abhängigkeit von der Läsionshöhe können unterschiedliche deszendierende inhibitorische Systeme ausfallen und somit verschiedene klinische Erscheinungsbilder entstehen. Die typische Wernicke-Mann-Haltung (Beugespastik an der oberen Extremität, Streckspastik an der unteren Extremität mit Zirkumduktion des Beins) ist Ausdruck einer Läsion rostral des Nucl. ruber (erhaltene Ruber-Motorik), d.h. kortikal oder subkortikal. Liegt die Läsion kaudal des Nucl. vestibularis lateralis (spinaler Querschnitt), überwiegt dagegen oft die Beugertonisierung der unteren Extremitäten (enthemmter Flexorreflex). Bei inkompletten Läsionen (Multiple Sklerose, Durchblutungsstörungen) kann das Bild wechseln.

Spastik kann in Abhängigkeit vom Grad der Schädigung kortikospinaler Bahnen in unterschiedlichem Ausmaß mit einer Parese kombiniert sein. Reine zentrale Paresen ohne Spastik oder reine Spastik ohne Paresen sind beim Menschen selten. Spastik ist an die Organisation der sensomotorischen Kontrolle des Primaten gebunden, bei Tieren sind spastische Phänomene nicht bekannt, man findet lediglich die Dekortikations-/Dezerebrierungsstarre, die nicht als Modell für die spastische Tonusssteigerung beim Menschen dienen kann.

Therapie

Medikamentöse Therapie

Bei Schädigung rostral des Nucl. ruber, Hemispastik, ..

  • ischämischer Insult
  • Blutung
  • Tumor
  • Multipler Sklerose

werden gegeben:

  • Antispastika mit zentralem Angriffspunkt
  • Tonus-senkende Präparate mit peripherem Angriffspunkt
  • andere Muskelrelaxanzien

Mittel der Wahl (zentraler Angriffspunkt)

Baclofen (Lioresal®)
  • DO
    • Initial 2-3x5mg bis maximal 100mg/d
    • einschleichend je nach Verträglichkeit und Effekt
  • Wirkungsweise:
    • zentraler, präsynaptischer, stereospezifischer, spinaler und supraspinaler Angriffspunkt am GABA-B-Rezeptor
    • hemmt Muskeleigenreflexe und polysynaptische Reflexe
  • NW
    • Muskelhypotonie (in hohen Dosen)
    • Müdigkeit (bei Überdosierung Koma)
    • Verwirrtheitszustände und Psychosen (Halluzinationen)
    • Schwindel
    • Übelkeit
    • orthostatische Regulationsstörungen
    • arterielle Hypotonie
  • Eine Monotherapie ist vorzuziehen
  • Sollten unerwünschte Nebenwirkungen auftreten, kann die Dosis reduziert werden und es sollte eine Kombination mit nachfolgenden Medikamenten in Erwägung gezogen werden
Tizanidin (Sirdalud®)
  • Dosierung
    • initial 3 x 2mg bis maximal 30mg/d
    • langsam aufdosieren (von Woche zu Woche)
    • Faustregel: Äquivalenzdosis Tizanidin : Baclofen = 1 : 3
  • Wirkungsweise
    • wirkt wahrscheinlich über einen spinalen und supraspinalen Angriffspunkt alfa-2-adrenerg
  • NW
    • Müdigkeit
    • Mundtrockenheit
    • Obstipation
    • Ataxie (Schwindel)
    • Blutdrucksenkung
Diazepam (z.B. Valium®, Gewacalm®)
  • Dosierung
    • 5-50mg/d
    • individuelle Dosisfindung
  • Benzodiazepine sind wirksame Antispastika, wegen der rasch entstehenden Abhängigkeit und Toleranz jedoch nicht für die Daueranwendung geeignet.

Mittel der zweiten Wahl (peripherer Angriffspunkt)

Diese Substanzen sind adjuvant zu den o.g. Präparaten bzw. in therapierefraktären Einzelfällen einsetzbar. In der Kombination entstehen oft unübersichtliche Interaktionen.

Dantrolen i.v.
  • Dosierung
    • initial 2 x 25mg
    • maximal 400mg/d
    • übliche Dosis: 4 x 50mg
  • Wirkungsweise
    • hemmt die elektromechanische Kopplung am Muskel, verursacht dadurch stets auch Muskelschwäche!
  • NW
    • Müdigkeit
    • Übelkeit
    • Schwindel
    • Muskelschwäche
    • Diarrhö
    • hepatotoxisch
Memantin (z.B. Axura®, Ebixa®) – ist ein Antidementivum
  • Dosierung
    • initial 10mg/d
    • übliche Dosis 20-30mg/d
  • Wirkungsweise
    • wahrscheinlich spinal
  • NW
    • Müdigkeit
    • Mundtrockenheit
    • Schwindel
    • Übererregbarkeit
    • Kopfdruck

Andere Muskelrelaxantien

als Präparate, die bei umschriebenen Muskelverspannungen oder Wadenkrämpfen eingesetzt werden, jedoch keine spezifische Wirkung auf die Spastik haben, sind zu nennen:

  • Tetrazepam (A: Myolastan® 50mg ftbl)

Intrathekale Baclofen-Applikation

Es gibt  therapieresistenten Spastikformen, die nicht auf orale Medikation ansprechen. Hierzu zählen insbesondere spinale Spastikformen, wie sie beim spinales Trauma, der spastische Spinalparalyse oder Multiple Sklerose vorkommen. Hier sollte man an die topische Applikation von Baclofen denken. Durch eine einmalige Versuchsdosis (intrathekal) kann man die Wirksamkeit von Baclofen testen.

Das Medikamenten-Reservoir enthält 20-50ml Baclofen-Lösung. Dies entspricht bei üblichen Tagesdosen von 0,2-0,3mg dem Bedarf von  20-180 Tage. Das Nachfüllen kann Nachfüllen ambulant perkutan erfolgen.

Indikation

  • aufgrund der Risiken  ist die Indikation streng zu stellen – der oft große Nutzen ist dagegen  zu halten
  • therapierefraktär unter oraler Behandlung
  • schwere Behinderung durch extreme (Beuge-)Spastik, wenn man sich Erleichterung erhoft beim:
    • Lagern
    • Pflege
    • Rollstuhlfahren
  • Schmerzen infolge Muskeltonisierung
  • einschießende Spasmen

Risiken

  • Operationsrisiko (und Narkoserisiko – wie bei jeder Operation
  • Katheterfehllage
  • technisches Versagen der Pumpenmechanik oder Elektronik
  • Medikamentenunverträglichkeit
  • Überdosierung durch Fehlmedikation

Physikalische Therapie

Wichtigste Maßnahmen zur Spastik-Behandlung sind Krankengymnastik und physikalische Maßnahmen, diese sind evtl. in Verbindung mit Kälteanwendung zu verwenden.

  • Ziele sind
    • die Spastik durch entsprechendes „Handling“ zu hemmen
    • den Muskeltonus zu normalisieren
    • normale Bewegungsmuster zu bahnen
  • Wichtig sind dabei
    • reflexhemmender Ausgangsstellungen wählen (Lagerung im Bett, Verhalten beim Sitzen oder Stehen, z.B. bei Beugespastik der Beine)
      • bei spinaler Spastik Bauchlage
      • bei Adduktionsspastik Reitsitz
    • Auslösen des spastischen Musters, z.B. Hemiplegie bei Beugehaltung des Armes: Protraktion der Schulter-Ellbogen-Extension, Öffnen der Hand mit Adduktion des Daumens
    • langsames passives, passiv-assistives oder auch aktives Bewegen
    • Vermeidung von tonuserhöhenden Reizen (Berührungs- und akustische Reize etc.)
    • Eisanwendung
    • beruhigendes Sprechen
    • usw.

Bei Hemiplegie hat sich die krankengymnastische Behandlung nach dem Bobath-Konzept bewährt (nach genauer Befunderhebung), z.B. in der Frühphase: Pneumonie-, Thrombose- und Kontrakturprophylaxe, bilaterales Üben, Stimulierung der betroffenen Seite durch entsprechende äußere Reize (Stellung des Bettes im Raum, Ansprechen von der paretischen Seite etc.), Instruktionen des Pflegepersonals über Handhabung des Patienten (z.B. Vermeidung von Traumatisierung des betroffenen Schultergelenks, Transfer von Bett in den Rollstuhl usw.).

Operative Therapie

Die meisten destruktiven Eingriffe am Rückenmark oder den Wurzeln sind heute weitgehend verlassen bzw. äußerst selten durchgeführt. Durchgeführt wurden die selektive dorsale Rhizotomie, die longitudinale Myelotomie oder verschiedene orthopädische Operationen mit Verlagerung oder Verlängerung von Sehnen. Die Eingriffe am Myelon und an den Wurzeln waren früher eine ultima ratio und oft mit schweren Nebenwirkungen behaftet, wie Sensibilitätsstörungen, Blasenstörungen und zusätzlichen Schmerzen oder Paresen. Sie werden heute fast nicht mehr durchgeführt und möglicherweise von der intrathekalen Applikation von Baclofen ersetzt.

Die Implantation von epiduralen Stimulationssonden für die Spastikbehandlung wurde einige Jahre lang empfohlen. Verschiedene Studien konnten allerdings nicht einen dauerhaften Erfolg belegen. Die Methode wird heute sehr ambivalent beurteilt und nur noch selten angewandt.

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